Masalih Mursala

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Masalih Mursala (arab.: المصالح المرسلة) bedeutet "die Berücksichtigung des allgemeinen Interesses". In der Usul al-Fiqh-Wissenschaft ist dieser Begriff an zwei Stellen von Bedeutung. Einmal im Rahmen des Qiyas. Dort gelten die Masalih Mursala als einer der Wege (arab.: Masaalik), um dem einer Norm zugrundeliegenden Zweck (arab.: 'Illa) herauszufinden. Zweitens kommt den Masalih Mursala im Rahmen des Istislah die Stellung einer Rechtsgewinnungsmethode zu, d.h. es dient der Schaffung von Rechtsnormen zum Schutze von Allgemeininteressen.

Definition des Begriffes Masalih Mursala[Bearbeiten]

Der Begriff setzt sich zusammen aus dem Substantiv Masalih (Pl. von Maslaha) und dem Adjektiv Mursala.

Maslaha bedeutet sprachlich: Nutzen, Interesse, Wohl. Der Begriff wird in einer zweiten Bedeutung auch auf eine Tätigkeit bezogen, die nützlich ist. So sagt man zum Beispiel: das Studieren des islamischen Wissens ist Maslaha. Maslaha ist das Gegenteil von Mafsada ( Verderbnis)[1].

Das Adjektiv Mursala leitet sich vom Verb Arsala ab, es bedeutet freigelassen, losgeslassen. So sagt man im Arabischen: arsaltu at-Ta-ir, ich habe den Vogel freigelassen. Mursala bedeutet demnach frei, unbeschränkt[2].

Definition Maslaha Mursala als Fachterminus: Der Gelehrte Al-Ghazali definierte den Begriff Maslaha als eines der Beweismittel im Rahmen der Scharia wie folgt:

"Es ist ursprünglich Ausdruck des Herbeiführens eines Nutzens oder der Abwendung eines Schadens. Wir meinen damit aber nicht dies (d.h. die rein sprachliche Bedeutung), denn die Herbeiführung eines Nutzens und die Abwehr eines Schadens stellen Ziele der Geschöpfe dar und das Wohl der Geschöpfe liegt in der Erreichung ihrer Ziele. Wir meinen mit Maslaha aber die Erhaltung der Ziele der Scharia. Die Ziele der Scharia im Hinblick auf die Geschöpfe sind fünf: ihr Din, ihr Leben, ihr Verstand, ihre Abstammung und ihr Vermögen sollen bewahrt werden. Somit ist alles, was die Bewahrung dieser fünf Grundlagen (Rechtsgüter) garantiert, Maslaha und alles, was zur Beeinträchtigung dieser Grundlagen führt, ist Mafsada - und seine Abwendung Maslaha." [3]

Anhand der sprachlichen Definition des Adjektives Mursala erkennt man, dass die Maslaha Mursala solche Interessen sind, die nicht explizit in der Scharia erwähnt werden, weder deren Anerkennung noch deren Verwerfung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass überhaupt keine Belege für diese Interessen in der Scharia vorhanden sind.

Al-Ghazali definiert die Masalih Mursala im Rahmen des Qiyas: "Das Abhängigsein von bloßen allgemeinen Interessen, ohne dass dabei auf einen bestimmten geregelten Sachverhalt (arab.: Asl) Bezug genommen wird." D.h. bei der Rechtsfindung wird nicht auf einen bestimmten Sachverhalt, in dem diese Interessen explizit erwähnt werden, sondern auf allgemeine Interessen Bezug genommen.

Einteilung der Masalih in drei Kategorien[Bearbeiten]

Der Gelehrte Ghazali (gest. 1111) ging wie die Mehrheit der Gelehrten davon aus, dass die gesetzlichen Bestimmungen der Scharia den Interessen der Menschen dienen. Er teilte die Masalih in drei Kategorien ein[3]:

  1. Interessen, die in den gesetzlichen Bestimmungen der Scharia Berücksichtigung finden (arab.: al-Masalih al-Mu´atabara). Beispiel: Schutz des Lebens durch das Prinzip der Wiedervergeltung (arab.: Qisas) und des Verstandes durch das Verbot des Alkoholtrinkens.
  2. Interessen, die in den gesetzlichen Bestimmugen der Scharia verworfen werden (al-Masalih al-Mulrhaat). Beispiel: Man könnte im Erbrecht z.B. daran denken, dass es im allgemeinen Interesse sei, jeder Person ob männlich oder weiblich den gleichen Erbteil zukommen zu lassen. Dieses Interesse wird aber im Quran verworfen, dort heißt es in Sure An-Nisa', Vers 11: "Einem männlichen Geschlechts kommt ebensoviel zu wie der Anteil von zwei weiblichen Geschlechts".[A 1]
  3. Interessen, die nicht in den gesetzlichen Bestimmungen explizit erwähnt werden. D.h. sie werden weder anerkannt noch verworfen (al-Masalih al-Mursala). Beispiel: Die Sammlung und Zusammenfassung des Qurans durch die Sahaba[4].

Es ist klar, dass die zweite Kategorie nicht als Grundlage zur Schaffung von Rechtsnormen gelten kann. Nur die erste und die zweite Kategorie kann man als gesetzmäßige Interessen betrachten, wobei dies bei der letzten Kategorie zwischen den Gelehrten umstritten ist. Der Meinungsunterschiede der Gelehrten spielt im Rahmen des Istislah eine wichtige Rolle und wird dort behandelt.

Belege für die Beweiskraft der Masalih Mursala[Bearbeiten]

Die aufgeführten Belege sind Teil der von der Mehrheit der Gelehrten angeführten Belege, die den Masalih Mursala Beweiskraft im Rahmen der Rechtsfindung zusprechen[1].

Belege aus dem Quran[Bearbeiten]

Im Quran finden wir in vielen Stellen Belege dafür, dass Allah ta´ala die Propheten und die Schara'i (Pl. von Scharia) ausschließlich zum Wohle seiner Diener geschickt hat:

  1. Allah ta´ala sagt z.B. im Quran sinngemaess: "Wir haben ja Unsere Gesandten mit den klaren Beweisen gesandt und mit ihnen die Schrift und die Waage herabkommen lassen, damit die Menschen für die Gerechtigkeit eintreten." (Sura al-Hadid, Vers 25)
  2. Allah ta´ala sagt, indem er zu seinem Propheten (Friede und Segen auf ihm) spricht, sinngemaess: "Und wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt." (Sura al-Anbiyaa´, Vers 107) Wenn Allah den Propheten mit Bestimmungen geschickt hätte, die nicht die allgemeinen Interessen der Menschen wahren, so könnte man diesbezüglich nicht von Barmherzigkeit sprechen.
  3. Im Quran heiß es: "Allah gebietet Gerechtigkeit, gütig zu sein und den Verwandten zu geben; Er verbietet das Schändliche, das Verwerfliche und die Gewalttätigkeit. Er ermahnt euch, auf dass ihr bedenken möget." (Sura an-Nahl, Vers 90) Güte bedeutet in diesem Zusammenhang entweder Bewirken von Maslaha oder Abwehr von etwas Verwerflichem.

Zudem finden wir im Quran zahlreiche Aussagen, die darauf hinweisen, dass die Muslime nicht in Bedrängnis gebracht werden sollen, beispielsweise:

  1. Die Worte Allahs: "..Er hat euch erwählt und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt." (Sura al-Hadsch, Vers 78)
  2. Die Worte Allahs: "...Allah will für euch Erleichterung: Er will für euch nicht Beschwernis,..." (Sura al-Baqara, Vers 185)

Belege aus der Sunna[Bearbeiten]

Die Sunna bestätigt, die Berücksichtigung des allgemeinen Interesses/Allgemeinwohls. Die folgenden zwei Beispiele belegen dies:

  1. Der Sahabi Abu Sa'id al-Chudri (Allahs Wohlgefallen auf ihm) berichtete, dass der Gesandte Allahs (Friede und Segen auf ihm) sagte: "Keinen Schaden zufügen und keinen Schaden mit Schadenszufügung beantworten." (al-Hakim, Hadith sahih nach Al-Albani)
  2. Der Prophet (Friede und Segen auf ihm) sagte zu Al-Murhira Ibn Scha´ba, der sich mit einer Frau verlobt hatte ohne sie zu sehen: "Sieh sie an, denn dies ist besser dazu geeignet, dass zwischen euch Liebe und Eintracht bestehen wird." (Hadith bei At-Tirmidhi, An-Nasa´i, Imam Ahmad) Der Prophet wies darauf hin, dass in diesem Falle, d.h. bei Heiratsabsicht, aus dem Anblick der Frau Nutzen (Maslaha)resultiert. Dieser Nutzen liegt in einer Ehe, die von Liebe und Eintracht geprägt ist.

Es gibt noch zahlreiche andere Beispiele aus der Sunna.

Beispiel aus der Zeit der Sahabi[Bearbeiten]

Die Sahaba beschränkten sich beim Idschtihad nicht auf die Texte des Qurans und der Sunna, sondern sie wandten auch die Masalih Mursala an, wenn diese Interessen inhaltlich den Aussagen des Quran und der Sunna nahe kamen. Die folgenden Beispiele sollen dies veranschaulichen:

  1. Sammlung und Zusammenfassung des Quran: Zaid Ibn Thabit wurde von Abu Bakr As-Sadiq in Abstimmung mit Umar Ibn al-Khattab beauftragt, den Quran zu sammeln, d.h. die vorhandenen Suren zu einem Werk zusammenzufassen. Zaid sagte zu Abu Bakr und Umar: „Wie könnt ihr es wagen, etwas zu tun, das der Prophet nicht getan hat?“ Abu Bakr sagte: „Bei Allah, es ist (wirklich) etwas Gutes.“ (Bericht bei Buchari) Daraufhin trug Zaid Ibn Thabit den Quran zusammen, der teilweise aufgeschrieben und teilweise in den Herzen der Sahaba aufbewahrt war ( da sie die Suren auswendig gelernt hatten). Dieses Vorgehen wurde also mit dem Allgemeininteresse gerechtfertigt, obwohl der Prophet dies nicht veranlasst hatte.
  2. Haftung für den Vertragsgegenstand im Werklieferungsvertrag (arab.: Istisna´): die rechtgeleiteten Kalifen sprachen sich für eine Haftung des Auftragnehmers bei Werklieferungsverträgen aus. Ali (Allahs Wohlgefallen auf ihm) sagte: "Für die Leute ist nur dies nützlich." (aufgeführt bei al-Baihaqi) D.h. nur die Haftung des Auftragnehmers ( Handwerkers) für den Vertragsgegenstand stellt eine befriedigende Lösung dar[5]

Kritik an der Beweiskraft der Masalih Mursala[Bearbeiten]

Diejenigen, die allgemein eine Berücksichtigung der Masalih Mursala ablehnen, argumentieren mit logischen Einwänden:

  1. Zum einen wird die Aussage des schafi´itischen Gelehrten al-Amidi angeführt, der sinngemäß sagte, dass es kein überzeugendes Argument gibt, die Masalih Mursala einer der beiden anderen Kategorien von Interessen, d.h. den verworfenen oder den explizit anerkannten Interessen zuzuordnen. Würde man sie den anerkannten Interessen zuordnen, wäre dies eine Zuordnung ohne hinreichendes Argument[6].
  2. Zum anderen wird eingewandt, dass die Berücksichtigung von allgemeinen Interessen, Tür und Tor öffnet für die Schaffung von Rechtsnormen, die nicht auf Belegen aus Quran und Sunna, sondern auf reinen Neigungen und Launen beruhen. Das Problem liegt hier auch in der Unbestimmtheit des Begriffes "allgemeine Interessen".

Quellennachweise[Bearbeiten]

  1. 1,0 1,1 `Abbasy Dr., Nur Ad-Din (2008): Al-Idschtihad al-Istislahy, S. 180, Beirut
  2. Ibn Mandhur, Dschamaluddin (2003): Lisan al-`Arab, Band 11, Verlag al-Kutub al-´Ilmiya, Beirut
  3. 3,0 3,1 al-Ghazalial, Abu Hamid: Mustasfa min 'Ilm al-Usuul, http://www.waqfeya.net
  4. Die Beispiele entstammen dem Buch: Asch-Schaukany, Mohammed bin `Ali (2000): Irschad al Fuhul ila Tahqiq al-Haq min ´Ilm al-Usul, Edition Muhammad Subi Ibn Han Hallaq, Anmerkung des Editors in der Fußnote, S.790, Damaskus-Beirut 2000
  5. Asch-Schatibi, Abu Ishaq Ibrahim Ibn Musa (1995) Al-I´tisam, Beirut (Libanon)
  6. al-Amidi,al-Ahkaam fi Usul al Ahkaam, http://www.waqfeya.net

Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. Auf dem ersten Blick sieht es beim islamischen Erbrecht so aus, als ob die Frauen benachteiligt werden. Dies ist jedoch nicht so, weil die Frauen nicht so wie die Maenner fuer ihre Familien aufkommen muessen. Wenn eine Frau Geld verdient, so gehoert das Geld ihr und sie ist nicht verpflichtet ihrem Mann, ihren Kindern, Eltern und Geschwistern etwas davon zu geben. Der Mann jedoch ist verpflichtet zu arbeiten um fuer seine Frau und Kinder aufzukommen, sowie fuer Eltern und Geschwister, wenn diese finanzielle Hilfe benoetigen. Wenn die Frau nicht verheiratet ist, so muss sie vom Vater, Bruder, Onkel oder Grossvater finanzielle Unterstuetzung bekommen. Daher ist es nur gerecht, dass Maenner etwas mehr Erbe bekommen als Frauen, weil sie auch dementsprechend mehr Ausgaben haben.